“Unser herrschender Marxismus fürchtet leider jeden Gedankenflug wie ein alter Gichtonkel”
- Rosa Luxemburg, 1913
Der Klügere gibt nach, der Dümmere macht weiter
- Rosa Luxemburg, 1913
Der Klügere gibt nach, der Dümmere macht weiter
von Esther Vilar (1987)
Esther Vilar |
... In diesem Sieg der Intelligenz war auch bereits ihre Niederlage enthalten. Am Anfang jeder Initiative, die zur Entmachtung der Phantasielosigkeit führt - Revolution -, müssen notgedrungen phantasievolle Menschen - Revolutionäre - stehen. Nur sie können sich ja in die Geächteten hineindenken. Nur sie haben genügend Vorstellungskraft, um sich etwa die durch Zerstörung der Natur, radioaktive Verseuchung, Überbevölkerung oder Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu erwartenden Verheerungen auszumalen.
Doch nach dem Anfang folgt immer auch bald das Ende ihrer Führerschaft. Sobald nämlich eine dieser von ihnen begründeten »Bewegungen« ihre ersten Schwierigkeiten hinter sich läßt und so viel Zulauf findet, daß plötzlich in unserer Gesellschaft eine neue Machtposition entsteht, wird der Phantasievolle der ersten Stunde durch eine jener Personen vertrieben, die, wie wir sahen, ihre Beharrlichkeit, ihr Fleiß und ihr Selbstbewußtsein dazu prädestinieren, einflußreiche Posten an sich zu bringen und zu behalten. Die Berufung des Revolutionärs wird zum Beruf des Funktionärs - das weitere Schicksal der Idee ist durch Intelligenz nur noch ausnahmsweise zu beeinflussen.
So gut er es eben gelernt hat, kämpft der Phantasievolle noch eine Weile um die Spitze. Dann wird er entweder vom jeweiligen Robespierre der jungen Bewegung ohne Gefühlsduselei an die Wand gestellt, oder er besiegt sich selbst - indem er seine Angst vor der Verantwortung für eine stetig steigende Zahl von Menschen, sein Mißbehagen vor der nun beginnenden Routine, seinen Humor und seine Selbstironie die Oberhand gewinnen läßt. Schon eine ganze Weile hat er vom Rückzug in die Anonymität geträumt: Sein Gesicht auf dem Bildschirm, seine Stimme im Radio, die durch ewiges Wiederholen nun schon wie Phrasen klingenden Kampfparolen, das alles flößt ihm Ekel vor sich selber ein. Ist es nicht lächerlich, wenn einer sich für unersetzlich hält: Was soll dieser missionarische Eifer?
Und so geraten denn Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Umweltschutz- und Friedensprogramme, Frauen-, Männer-, Kinder- und Altenrechtsbewegungen mit schöner Regelmäßigkeit in die Hände der Barbaren. Schon nach wenigen Jahren verkommen die gegen die Dummheit ins Leben gerufenen Institutionen zu Horten ebenjener Dummheit, die sie bekämpfen wollten: Christi Leiden für die Unterdrückten sind zum Unterdrückungsinstrument des Klerus geworden. Die Ideale der Französischen Revolution wurden von den bestialischen Jakobinern verraten. Aus den Träumen von Marx und Engels ist die Mitleidlosigkeit der Kommunistischen Partei entstanden. Das von unseren Vätern so bitter erkämpfte Streikrecht liegt heute in den Händen perspektivloser Gewerkschaftsfunktionäre. Die von den weißen Herrschern befreiten Kolonien gerieten in die Gewalt schwarzer Diktatoren. Die phantasievollen Vietnamprotestler haben uns die stumpfsinnigen Kommandos der Roten Brigaden hinterlassen. Die Tränen der mutigen Suffragetten brachten das Kabarett der Frauenbewegung zum Erblühen. Die herrlichen Grauen Panther werden wohl eines Tages zur Plattform PR-süchtiger Berufsgreise verkommen. Und die mit soviel Elan zum Schutz des Friedens und der Umwelt ins Leben gerufenen Initiativen degenerieren voraussichtlich in dem Tempo, wie sie sich durch Zustrom von Anhängern zum Aufstiegsinstrument für Karrieristen profilieren."Der Ausspruch 'Der Klügere gibt nach' begründet die Weltherrschaft der Dummen", heißt es bei Maria Ebner-Eschenbach; denn der Klügere gibt nach, und der Dümmere macht so lange weiter, bis es sein Niveau ist, das das Gesicht der Erde prägt.
Auszug aus: Vilar, Esther : Der betörende Glanz der Dummheit, 3. Auflage 1987 ISBN 3-430-19368-0
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