(Erschienen am 30.01.2010 im NEUEN DEUTSCHLAND)
von Lothar Bisky
Eric Hobsbawn hat das zwanzigste Jahrhundert treffend als »Jahrhundert der Extreme« bezeichnet. Zwischen und in den politischen und ideologischen Extremen gedieh die Verdächtigungskultur. Markante historische Daten wurden zu Symbolen der zu Beginn des Jahrhunderts noch sozialdemokratisch vereinten Linken: Bewilligung der Kriegskredite, Oktoberrevolution, Novemberrevolution, Gründung der KPD, Ebert, Noske und Scheidemann, Luxemburg und Liebknecht, Räterepublik. Sozialdemokraten und Kommunisten gingen getrennte Wege und schlugen aufeinander ein, statt ihre Kräfte gegen Hitler zu vereinen. Das rächte sich bitterlich. Abtauchen, Exil oder Widerstand und Konzentrationslager waren verbliebene Möglichkeiten für die politische Linke bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.
|
Lothar Bisky 2005
im Haus des Buches (Dresden) |
Zwischenzeitlich hatte Stalin »den Wärmestrom in der Geschichte«, wie Heinrich Mann die Oktoberrevolution nannte, in der sibirischen Kälte des Gulag erstarren lassen. Der Kalte Krieg besetzte nach dem heißen Krieg die Herzen und Hirne vieler Menschen. Die Verdächtigungskultur integrierte die sehr unterschiedlichen politischen Entwicklungen in hilfreiche Schablonen: Stalinisten hier, Arbeiterverräter da, »Sozialdemokratismus« auf der einen und »Kommunisten« auf der anderen Seite galten als kaum zu überbietende pejorative (abwertende) Bezeichnungen. Die Verdächtigung, der einen oder anderen »Kategorie« zuzugehören, reichte zur vernichtenden Abstempelung des jeweils so Benannten.
Der Kalte Krieg war die Blütezeit der Verdächtigungskultur, und alle, die da hofften, sie würde mit ihm verschwinden, gingen in die Irre. Gewiss, sie ist heute abgemildert, aber sie strahlt noch weitläufig aus, als ob man immer noch dem Frieden nicht so ganz trauen könne: als hätten die Kommunisten noch Budjonnys Reiterarmee im Verborgenen zur Verfügung oder die Sozialdemokratie Noske im Hinterhalt versteckt.