Donnerstag, 18. August 2011

Versuch zur Verdächtigungskultur (Lothar Bisky 2010)


(Erschienen am 30.01.2010 im NEUEN DEUTSCHLAND)

von Lothar  Bisky


Eric Hobsbawn hat das zwanzigste Jahrhundert treffend als »Jahrhundert der Extreme« bezeichnet. Zwischen und in den politischen und ideologischen Extremen gedieh die Verdächtigungskultur. Markante historische Daten wurden zu Symbolen der zu Beginn des Jahrhunderts noch sozialdemokratisch vereinten Linken: Bewilligung der Kriegskredite, Oktoberrevolution, Novemberrevolution, Gründung der KPD, Ebert, Noske und Scheidemann, Luxemburg und Liebknecht, Räterepublik. Sozialdemokraten und Kommunisten gingen getrennte Wege und schlugen aufeinander ein, statt ihre Kräfte gegen Hitler zu vereinen. Das rächte sich bitterlich. Abtauchen, Exil oder Widerstand und Konzentrationslager waren verbliebene Möglichkeiten für die politische Linke bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

Lothar Bisky 2005
im Haus des Buches  (Dresden)
Zwischenzeitlich hatte Stalin »den Wärmestrom in der Geschichte«, wie Heinrich Mann die Oktoberrevolution nannte, in der sibirischen Kälte des Gulag erstarren lassen. Der Kalte Krieg besetzte nach dem heißen Krieg die Herzen und Hirne vieler Menschen. Die Verdächtigungskultur integrierte die sehr unterschiedlichen politischen Entwicklungen in hilfreiche Schablonen: Stalinisten hier, Arbeiterverräter da, »Sozialdemokratismus« auf der einen und »Kommunisten« auf der anderen Seite galten als kaum zu überbietende pejorative (abwertende) Bezeichnungen. Die Verdächtigung, der einen oder anderen »Kategorie« zuzugehören, reichte zur vernichtenden Abstempelung des jeweils so Benannten.

Der Kalte Krieg war die Blütezeit der Verdächtigungskultur, und alle, die da hofften, sie würde mit ihm verschwinden, gingen in die Irre. Gewiss, sie ist heute abgemildert, aber sie strahlt noch weitläufig aus, als ob man immer noch dem Frieden nicht so ganz trauen könne: als hätten die Kommunisten noch Budjonnys Reiterarmee im Verborgenen zur Verfügung oder die Sozialdemokratie Noske im Hinterhalt versteckt.


Die Rechte freut sich diebisch. Sie hat, von den Rechtsextremen abgesehen, Hitler aus ihrer Geschichte entsorgt und Stalin gegen die Linke wiederbelebt: Die Enkel Hitlers siegen über die Enkel Stalins, und die Schabowskis werden auch die dritte Wendeschleife unbeschädigt drehen. Das Phänomen der Verdächtigung wird man nicht beseitigen, politische Denunziation nicht durch Dekret abschaffen können. Was aber machbar ist, wäre im 21. Jahrhundert die Suche nach zeitgemäßen Lösungen neuer Problemlagen ohne ein Mitschleifen der Schablonen der Verdächtigungskultur.

Stefan Heym, einst von Bürgerbewegten als »Nestor« der friedlichen Revolution benannt, gab die Auszeichnungen, die er als Angehöriger der amerikanischen Armee im Kampf gegen die Hitler-Armee bekam, wegen des Koreakrieges zurück, behielt aber seine Haltung als Sozialist auch gegen Attacken des Politbüros der SED bei und wurde als Alterspräsident des Deutschen Bundestages brüskiert: Am Abend vor seiner Rede ging die Lüge durch die Sender, er habe Stasi-Kontakte gehabt. Nach seiner Rede blieb die CDU-Front mit einem offensichtlich schlecht gebildeten Historiker an der Spitze und mit den einstigen Blockfreunden der SED vereint in provokativer Haltung formiert – für alle Medien erkennbar. Motto: Wer mit der PDS etwas macht, egal was, ist des Hochverrats auf jeden Fall verdächtig oder längst überführt.

Seit zwei Jahrzehnten höre ich jetzt ohne nennenswerte Pause, dass die Partei, die ich vertrete, längst oder bald gestorben sein wird. Seit zwei Jahrzehnten verdächtigen mich die Blockfreunde von einst, sie seien lernfähig, wir aber nicht. Seit zwei Jahrzehnten bin ich für die Vergehen von Lenin, Stalin, Ulbricht und Honecker verantwortlich und verdächtig, irgendetwas gegen das Grundgesetz im Schilde zu führen. Ich weiß, diese Verdächtigung wird bleiben.

Muss aber die Verdächtigungskultur der Linken gegeneinander bleiben? Ich finde nicht. Das Wort »Versöhnung«, das Platzeck benutzt, scheint mir nicht besonders treffend. Ich möchte mich aber ohne jegliche Verdächtigung mit anderen Linken über »Fragen moderner, also vorsorgender Gesellschaftspolitik« (Platzeck) verständigen können – und zwar unabhängig von der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD und den Verbrechen Erich Mielkes.

Die Geschichte bleibt. Sie lässt sich weder entsorgen noch »bewältigen« oder hinter Schlussstriche zwängen. Sie lässt sich aber diskutieren ohne verdächtigungskulturelle Hintergründe. Voraussetzung dafür ist, sich gegenseitig Lernfähigkeit zuzugestehen, auch Mitgliedern anderer Parteien. Es sollte das Vorurteil der Konservativen bleiben, sich allein Lernfähigkeit zuzuschreiben und andere auszugrenzen. Exklusion unter- oder gegeneinander scheint mir für eine plurale Linke, wie sie sich praktisch herausgebildet hat, unbegründet und unangemessen. Inklusion bedeutet ja nicht, eigene Überzeugungen und Ziele preiszugeben, sondern sich auf einige Gemeinsamkeiten zu einigen, die sich im Alleingang nicht verwirklichen lassen. Das durchsichtige Ausgrenzungsritual der CDU bindet die SPD strategisch an Große Koalitionen und in die Opposition. Am Ausgrenzungshalsband führt die CDU die SPD vor und durchs Land.

Verdächtigung entsteht sowohl aus Unsicherheiten als auch aus übertriebenen Gewissheiten, vulgär: Rechthaberei. Die erbitterten Kämpfe um die »richtige« Auslegung der programmatischen Gerippe, an die sich alle klammern, wurzeln eher in einer Furcht denn in einer produktiven Nutzung von Pluralität.

Interessenvertretung arbeitender Menschen ist im 21. Jahrhundert komplizierter geworden, wo es neben der Industriearbeiterschaft nunmehr auch ein »Informationsproletariat« zu vertreten gilt, das in einem weiten Sinne mit der Produktion, Verbreitung und Speicherung von Information befasst ist, vorwiegend in prekären Beschäftigungsverhältnissen, in Routine und Kreativität: den Rohstoff Information nutzend, ohne ihn zu verbrauchen. Die Informations- und Wissensgesellschaft schiebt sich in die Industriegesellschaft. Beide ergeben eine neue soziale Mixtur, eine Architektur der Gesellschaft, die nicht nur in traditionellen Bahnen läuft.

Pluralität und Produktivität zusammen zu denken, die Unterschiedlichkeit als Chance, nicht als Gefahr zu nehmen, das fällt durchaus schwer. Dabei hat die Skepsis von Linken gegen die Veränderungen gute Gründe. Der Neoliberalismus hat die Liberalisierung der Märkte in die Finanzkrise gesteuert, die Flexibilisierung der Arbeit in das Prekariat, die Privatisierung in ein Instrument zur zügellosen Enteignung der Kommunen und Nationen zugunsten der Aufrechterhaltung des Casino-Kapitalismus. The winner is … Ackermann. Wer wollte da noch der Verdächtigungskultur widerstehen!

Die praktizierte Verdächtigungskultur heißt Denunziation. Denunziert wird zumeist nicht die Nachricht. Sondern die Denunziation bleibt am Überbringer der Nachricht kleben. Die Geschichte des Staatssozialismus ist reich an Geschichten, in denen die Politbüros nicht die kritisierten Zustände beseitigten, sondern diejenigen straften, die über sie berichteten. Sachlich ging und geht es um Verunglimpfung der Nachrichtenquelle. Subtile Methoden gestatten erfahrenen Denunzianten, sich der Denunziation des einen durch Anbiederung beim anderen zugleich zu bedienen. Ideologische Scharfrichterei feiert heute gelegentlich im Internet fröhliche Urständ, als hätte es die verhängnisvolle Denunziationsgeschichte der Linken nie gegeben.

Vor längerer Zeit sah ich einen sowjetischen Film. Es könnte »Schlacht unterwegs« gewesen sein. Darin gibt es eine Szene, in der ein Parteimitglied eines Werkes den Parteisekretär anruft, um sich bitter über ein anderes Parteimitglied zu beschweren. Der Parteisekretär unterbricht diese Denunziation und verbindet telefonisch den Kritisierer mit dem Kritisierten. Eine symbolträchtige Szene aus Tauwetter-Zwischenzeiten. Endlich wäre es möglich, diese Methode in Parteien zur Alltagskultur zu entwickeln. Es handelt sich um wahre Denunziationshemmer und Entwicklungsbeschleuniger einer produktiveren politischen Kultur.

Das Eigentümliche von gegenwärtigen Denunziationen besteht in der Tatsache, dass dem Wesen ideologischer oder politischer Denunziation die Abweichungsvermutung unterstellt ist, eine Abweichung von der vermeintlich richtigen »Linie« sei gegeben. Nun gibt es gerade in pluralen Parteien keine eindeutige Linie, von der man Millimeterabweichungen messbar nachweisen könnte. So wird denn von einer mutmaßlichen Abweichung als einer vermuteten scharfen Trennlinie ausgegangen – ein absurder Vorgang.

Vergleichbar ist er mit der Manipulationserwartung gegenüber Massenmedien. Gerade unter Linken ist der Manipulationsverdacht gegenüber Medien weit verbreitet, und das nicht selten berechtigt. Zugleich wird alles, was Medien berichten, für bare Münze genommen. So nimmt man gerade Äußerungen anderer Linker, die direkt oder indirekt oder gewissermaßen als Metaäußerungen oft aus jeglichen Zusammenhängen gerissen sind, wie empirische Beweise. So mutiert die Manipulationserwartung überraschend zur Beweislast.

Wer sich sorgfältig mit den zahlreichen Revisionsverfahren nach der Wende befasst, kann studieren, wie aus Zusammenhängen gerissene Äußerungen zur Knetmasse von Parteirepressionen geformt worden sind. Eine Lehre daraus sollte sein: präzise mit Äußerungen, mit Texten umzugehen, den Humus für Verdächtigungskulturen austrocknen zu lassen. Es liegt in unserer Hand, aus derartigen Lehren denunziationsfreie Kommunikationsräume zu entwickeln.
Zuerst erschienen in »Disput«, Januar 2010

"Sie ehrten ihn, indem sie sich nützten ..." (Brecht, Die Teppichweber ...)
Der Autor Lothar Bisky wurde gestern 70 Jahre alt. Das Dresdner Blätt'l  hat ihm gestern ausführlich dazu  gratuliert.

2 Kommentare:

ein Prolet hat gesagt…

Welch treffliche Ausführung von Lothar ,hab ich so 2010 nicht mitbekommen ,danke im nach hinein für die Auffrischung seiner Gedanken an Hirsch , für linksdenkende Menschen sollte dieser Text immer Anleitung zum Handeln sein .

Bernd Rump hat gesagt…

Lothar Bisky ist 70 geworden. Wer ihn kennt, wird wissen, was ihm die Linke in Deutschland zu verdanken hat. Wer ihn nicht kennt, hat etwas verpasst. Er ist vielleicht der einzige Politiker, dem man Glauben schenken kann. Er wurde zweimal Parteivorsitzender als es anders nicht ging. Er hatte sich nicht darum beworben und er hatte sich auch nicht geziert bitten lassen. Nach seinem ersten Rücktritt nannte ihn eine Zeitung den seltsamsten Parteivorsitzenden in Deutschland. Das ist er auch geblieben. Er war nie ein brillanter Redner und absolvierte die entsprechenden Aufgaben auch nicht gerade mit Inbrunst. Er war auch nicht auf Sitzungen versessen aber er war geduldig, weil er wusste, dass sie eben dazu gehören. Er war vor allem ein Zuhörer. Für jedermann. Im Grunde ist er geblieben, was er immer sein wollte, ein guter Lehrer. Und er blieb auch dort, wo er immer sein wollte: bei den Leuten. Da war er hergekommen. Aus einer Kate. Was die Linke betrifft, so hat er wohl einen einzigen Kampf verloren. Allerdings den ihm Wichtigsten, den um eine Kultur. Eine Kultur, frei von Denunziationen und Besserwisserei. Er hat den Demokratischen Sozialismus nicht erfunden und das auch nie von sich behauptet. Aber er hat als Politiker versucht, ihn zu leben. Wenn einer in dieser Partei Ernst gemacht hat mit dem libertären Sozialismus, dann er. Dass es ohne Freiheit keine Gleichheit geben kann und auch gar keine Gerechtigkeit muss man Lothar Bisky nicht erst erzählen. Vielleicht hat seine Partei noch so viel Verstand, um das zu verstehen. Es wäre sonst um sie schade, weil es vor allem ein Schade wäre für diejenigen, die sie brauchen könnten: die Leute, die eher unten sind als oben.